Janis Varoufakis "Hört auf mit der Schadenfreude gegenüber Deutschland"

Von Melanie Loos
Redakteurin Außenpolitik

Stand: 03.08.2022 | Lesedauer: 5 Minuten

In der Energiekrise braucht Deutschland die Solidarität der EU. Griechenlands früherer Finanzminister Janis Varoufakis - der wegen seines Widerstands gegen die Sparpolitik der EU und Deutschlands bekannt wurde - fühlt sich an die Finanzkrise erinnert. Er sieht in der EU "ein kollektives Scheitern". Ex-Finanzminister von Griechenland: Janis Varoufakis
Quelle: Marlene Gawrisch / WELT

Janis Varoufakis war von Januar bis Juli 2015 Finanzminister in Griechenland. Bekannt ist er in Deutschland vor allem wegen seines Widerstands gegen die Sparpolitik der EU. Später gründete der Ökonom und Wirtschaftsprofessor die Bewegung "Demokratie in Europa". Für deren Ableger in Griechenland sitzt er heute im Parlament in Athen. WELT erreicht ihn am Telefon.

WELT: Herr Varoufakis, die EU-Staaten haben sich gerade auf einen Gas-Sparplan geeinigt. Ist das als Akt der Solidarität gegenüber Deutschland zu verstehen?

Janis Varoufakis: Was die Energieminister in Brüssel beschlossen haben, ist unverständlich. Wozu braucht man eine Einigung, wenn es sich um freiwillige Sparziele handelt? Außerdem gibt es etliche Ausnahmeregelungen. Vergleicht man die niedrigeren Gaslieferungen, vor allem die Kürzungen über Nord Stream 1 vor wenigen Tagen mit den möglichen Einsparungen, die die EU gerade beschlossen hat, zeigt sich, dass die Rechnung nicht aufgeht. Brüssel jedoch versucht, sie als großen Erfolg zu verkaufen. Es ist immer dasselbe Spiel, das bis in die 90er mit dem Vertrag von Maastricht zurückgeht. Damals wurden Konstruktionsfehler begangen, die Einigkeit und gemeinsame Projekte in der EU unmöglich machen.

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WELT: Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Varoufakis: Die Europäische Währungsunion ist ein gutes Beispiel. Als diese in den 1990er-Jahren auf den Weg gebracht wurde, baute man eine Schönwetterkonstruktion. Was jetzt geschieht, erinnert mich sehr an die Fehler, die wir damals beim Euro gemacht haben. Jedes Land macht seine eigene Energiepolitik. Dabei brauchen wir dringend eine Energieunion - eine echte grüne Energieunion, in der Produktion, Vertrieb und Beschaffung in EU-Eigentum stehen und die durch eine Allianz aus Europäischer Investitionsbank und Europäischer Zentralbank finanziert wird.

WELT: Wie genau sollte eine gemeinsame Energiepolitik in der EU aussehen?

Varoufakis: Wir müssen die natürlichen Ressourcen in den verschiedenen Ländern - Solarenergie in Südeuropa, Windkraft in Deutschland und Nordeuropa - bündeln und dann europaweit verteilen. Stattdessen haben wir einen Energiebinnenmarkt, der zum Scheitern verurteilt ist. Das ist absurd und hat nur funktioniert, solange Gas billig war. Wenn der Gaspreis so stark steigt wie jetzt, funktioniert das System nicht mehr. Dann treffen sich die Minister und vereinbaren freiwillige Maßnahmen mit zahllosen Ausnahmen.

WELT: Sehen Sie Parallelen zur Euro-Krise?

Varoufakis: Ja, als die Finanzkrise 2008 losging, war es genauso. Auch damals wurden in letzter Minute solche sinnlosen Entscheidungen getroffen. Wenn Historiker irgendwann zurückblicken, werden sie lachen über die EU. Und dabei trifft nicht ein Land alleine die Schuld, weder Deutschland noch Griechenland. Es ist ein kollektives Scheitern.

WELT: Die Folgen haben Sie als griechischer Finanzminister erlebt, als Sie die harten Sparauflagen der EU umsetzen mussten.

Varoufakis: Ich war derjenige, der gesagt hat: keine weiteren Rettungspakete. Heute sehen wir die Folgen dieses Bailouts: Die EZB sitzt auf den Schulden von Griechenland, Italien und teilweise Deutschlands. Die Euro-Krise war eine Katastrophe, die ganz Europa um Jahre zurückgeworfen hat - und wir haben die Folgen immer noch nicht ganz überwunden.

WELT: Wie kann die "Katastrophe" diesmal verhindert werden?

Varoufakis: Die von mir erwähnte paneuropäische Energieunion müsste mit einem grünen Fonds im Wert von 500 Milliarden Euro zum Aufbau der Infrastruktur ausgestattet werden. Dieser würde über Anleihen der Europäischen Investmentbank finanziert, welche die EZB dann kaufen würde. Mit einer solchen Lösung dürften dann auch Skeptiker der EZB-Anleihepolitik aus Deutschland kein Problem haben. Dies wäre eine echte europäische Lösung. Alles andere führt uns von einer Krise in die Nächste.

WELT: Jedes Mal, wenn die EU in einer Krise steckt, wird nach europäischer Solidarität gerufen. Gibt es diese überhaupt?

Varoufakis: Wenn ich europäische Solidarität höre, zucke ich zusammen! Der Begriff wird überstrapaziert. Es gibt keine Solidarität in der EU. Die Rettung Griechenlands wird als Akt der Solidarität bezeichnet, doch das Gegenteil ist der Fall. Der Gedanke der europäischen Solidarität wurde beschädigt. Es klingt zynisch, aber in Wirklichkeit wurden damals deutsche, griechische und französische Banken gerettet.

WELT: Wie steht es um die Solidarität der Griechen mit Deutschland, das aufgrund seiner starken Abhängigkeit von russischem Gas besonders betroffen ist?

Varoufakis: Ich kämpfe hier in Griechenland gegen die Leute, die schlecht über Deutschland reden. Ich fühle mich verpflichtet, das zu tun, denn viele betrachten meinen Kampf gegen Angela Merkel und Wolfgang Schäuble fälschlicherweise als antideutsch - was ich nie war. Daher ist es mir ein Bedürfnis, den Menschen zu sagen: Hört auf mit der Schadenfreude gegenüber Deutschland. Dies ist nicht der Zeitpunkt, um Rache zu nehmen.

Mit dem damaligen Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble im Februar 2015 in Berlin
Quelle: Michael Kappeler/picture alliance/dpa

WELT: Woher kommt Ihr Mitgefühl für Deutschland?

Varoufakis: Deutschland trägt keine Schuld an der Energiekrise. Wir haben in der EU das falsche Energiemodell geschaffen. Dafür sind alle Mitgliedstaaten gleichermaßen verantwortlich. Wir müssen aufhören, uns gegenseitig die Schuld in die Schuhe zu schieben. Einen Rat an Deutschland habe ich dennoch: Hört auf zu jammern! Wir müssen jetzt etwas tun - und zwar zusammen.

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WELT: So wie der Corona-Wiederaufbaufonds, der ja auch in einer Krise ins Leben gerufen wurde?

Varoufakis: Dieser Fonds ist furchtbar - und dafür gebe ich Angela Merkel wirklich die Schuld. All die Milliarden werden verschwendet, denn die Mittel werden direkt an die Regierungen ausgezahlt, und die verteilen sie dann an ihre Freunde. Das ist in Griechenland und Italien so, und teilweise sogar in Deutschland und Frankreich. Wirklich innovative Unternehmen, wie Start-ups oder kleine und mittlere Unternehmen, bekommen nichts. Es wird alles in die Taschen der Oligarchen fließen.

WELT: Sie kritisieren die deutsche EU-Politik von Angela Merkel. Was erwarten Sie von der Bundesregierung unter Olaf Scholz in Bezug auf die Zusammenarbeit in Europa?

Varoufakis: Es ist höchste Zeit, dass der deutsche Bundeskanzler das tut, was Frau Merkel nicht getan hat: Die Menschen in Deutschland davon zu überzeugen, dass sie eine echte europäische Föderation unterstützen müssen, wenn sie wollen, dass die EU und der Euro funktionieren.


Quelle: welt.de